Frank Sieren: Shenzhen – Zukunft Made in China

Zwischen Kreativität und Kontrolle - die junge Megacity, die unsere Welt verändert; Penguin Verlag 2021

Der Journalist, Autor und China-Experte Frank Sieren lebt und arbeitet seit fast 30 Jahren in Peking und berichtet seitdem über die Entwicklung der Volksrepublik China, unter anderem über die weltweite Expansion der chinesischen Wirtschaft und den Auswirkungen auf andere Volkswirtschaften.

Kurzbeschreibung

In dem Buch „Shenzhen – Zukunft Made in China“ dreht sich alles um die 20-Millionen-Metropole in Südchina, die, so Sieren, „Stadt, in der wir die Zukunft sehen können“. Shenzhen gehört zu den innovativsten Städten der Welt und stellt in vielen technologischen Bereichen das Silicon Valley längst in den Schatten. In den Kapiteln „Wohnen“, „Bewegen“, „Überwachen“, „Chillen“, „Vernetzen“, „Assistieren“ „Heilen“ und „Essen“ zeigt uns Sieren, wie Shenzhen, die Nachbarstadt von Hongkong, zu einem gigantischen Zukunftslabor wird. Besser gesagt längst schon ist. Die Innovationen und Entwicklungen in den Bereichen E-Mobilität, KI, Drohnen, 5G, Roboter oder Gaming macht die westeuropäische Leserin sprach- und atemlos. Es ist, als ob man einen Vorhang lüpft und in ein Science-Fiction-Szenario der eigenen – in Europa noch fernen – technologischen Zukunft blickt. Mit allem Optimismus, aber auch allem Gruseln. Gruseln etwa darüber, wieviel Überwachung und staatliche Lenkung die chinesische Bevölkerung toleriert, wenn dies den Wohlstand und die Sicherheit des Einzelnen garantiert.

Warum hat mir das Buch gefallen?

Egal ob wir in Westeuropa Shenzhen „einholen“ oder einen anderen Weg gehen wollen – das, was dort geschieht, ist beeindruckend. Es macht gleichzeitig Vorfreude (KI im Kampf gegen Umwelt- und Klimakrisen, technische Lösungen für mehr Nachhaltigkeit) und Angst (Überwachungstechnologien, die Allmacht der KP Chinas, der gläserne Mensch).

Wem empfehle ich dieses Buch?

Allen, die noch im Glauben schweben, Europa sei Technologieführer in der Welt. Zukunfts-Interessierten, die gemeinsame europäische Schwerpunktprojekte in den Bereichen KI, 5G-Anwendungen und erneuerbare Energien vermissen. Allen, die eine diffuse Hoffnung haben, dass Technologie unsere Klima- und Umweltprobleme zu lösen in der Lage ist, und eine diffuse Angst, dass China daran gar nicht interessiert ist. Doch, ist es. Jedenfalls wenn man dem China-Kenner Sieren glaubt.

Leseproben

Aus dem Kapitel „Bewegen“

Xiao hat eine einfache und geniale Idee, wie man das autonome Fahren für jedermann bezahlbar macht. Er hat ein viel preiswerteres und dennoch genauso verlässliches System entwickelt wie sein härtester Wettbewerber, die Google Tochter Waymo. Deren Autos galten bisher als führend beim autonomen Fahren. Sie sind in Arizona auch schon allein unterwegs. Aber noch langsamer, beschützter und weniger öffentlich. Die ersten 25 Autos von „Professor X“ sind seit Januar 2021 hingegen mitten in einem Viertel der Megametropole Shenzhen unterwegs. Erstmals können in China völlig autonom fahrende Taxis frei gebucht werden. Ohne Sicherheitsbeifahrer und für jeden, der Lust dazu hat und die entsprechende App heruntergeladen hat. (…) Neben den geringeren Kosten ist es Xiao nun möglich, viel schneller wichtige Daten für seine Software zu sammeln. Denn er testet seine E-Mobile eben nicht in einem streng begrenzten Gebiet im beschaulichen Phoenix, Arizona, in dem gerade einmal 1200 Menschen pro Quadratkilometer leben, sondern in einer Megacity mit 8000 Bewohnern pro Quadratkilometer. „Je dichter der Verkehr, umso zuverlässiger sind die Stresstests und umso schneller wird die Technik alltagstauglich“, sagt AutoX-Chef Xiao.

Aus dem Kapitel „Chillen“

„Inzwischen ist man hier in Shenzhen individualistischer als in Europa“, resümiert David, „freundlicher und aufgeschlossener dafür, dass jemand sein eigenes Ding macht, seinen eigenen Stil hat. Zumindest, solange es nicht politisch im engeren Sinne wird.“ „Was bedeutet das denn, ‚im engeren Sinne‘?“, hake ich nach. „Das bedeutet, man kann sich kreativ entfalten, wie man will, Musik machen, malen, was auch immer. Man kann für eine bessere Umwelt kämpfen, für ein nachhaltiges Leben, für eine bessere Stadt. Und man kann wirklich anders sein, das interessiert die Herrschenden nicht, solange man keine Partei gründet oder Massenbewegung schürt. Aber das wollen die meisten jungen Leute sowieso nicht.“ „Kann man das denn so einfach trennen – Individualismus und politisches Engagement?“, frage ich erstaunt. „Natürlich nicht immer, aber in den meisten Fällen schon. Die meisten Subkulturen wollen weniger die Welt verändern als eine Szene für Leute schaffen, die ähnlich ticken.“

Aus dem Kapitel „Assistieren“

Hier sind alle Mitarbeiter Roboter: Fließbänder voller traditioneller kantonesischer schwarzer Tontöpfe mit Deckeln laufen durch die Küche und werden mit traditionellen Gerichten (…) gefüllt. Die Roboter in der Küche erinnern eher an jene, die man aus der Autoindustrie kennt. Ein sogenannter Bot-Chef brät, belegt und verpackt Hamburger am Fließband. 24 Stunden lang. Der Nudel-Bot-Chef, ein Roboter-Komplex auf vier Quadratmetern, kann 120 Gerichte pro Stunde herstellen. (…) Corona hat dafür gesorgt, dass die Ideen des Entwicklerteams weitergeführt wurden – vom halbautomatischen zum vollautomatischen Restaurantbetrieb.  „Manche Kunden machen sich ja noch Sorgen, selbst wenn das Personal Masken trägt“, erklärt Xiao Ran. Da ist es schon beruhigend, wenn man weiß, dieses Gericht wurde völlig ohne menschlichen Kontakt hergestellt und serviert.“ Es sei viel einfacher, einen Roboter zu desinfizieren als einen Menschen. Und der Roboter müsse nach Arbeitsende auch nicht mit der U-Bahn nach Hause fahren.

Nicht alle Gerichte im „Foodom“ werden von den Robotern gebracht. Manche kommen in einer Mischung aus Rohrpost und Schwebebahn direkt an den Tisch. Wieder andere Speisen werden von einem Kran, dessen Essensbehälter aussieht wie ein Lampenschirm, von der Decke gelassen. Der Teller wird von drei Flügeln gehalten, die sich öffnen wie eine auf dem Kopf liegende Blüte, und das Essen darunter freigeben. Dass das Restaurant bei all der Technik nicht zu steril wirkt, dafür sorgen schon die ausgelassenen Gäste. Die Chinesen schaffen es, in fast jeder Umgebung eine laute, ungezwungene Essensatmosphäre zu schaffen. Es wird noch freundlich geschmatzt, wie in all den tausend Jahren, in denen die Chinesen beim Essen ohne Roboter ausgekommen sind. Die Kinder lieben die Roboter sowieso. Bezahlt wird natürlich bargeldlos per WeChat von Tencent. Der Roboter zwinkert freundlich, wenn die Überweisung erfolgreich war, und gibt den Tisch wieder frei, damit ihn die Roboterdame am Eingang neu vergeben kann.

Aus dem Kapitel „Essen“

Würden die Chinesen pro Kopf so viel Fleisch konsumieren wie die Amerikaner, wäre das eine Katastrophe für das Klima. (…) Schon jetzt macht die Fleischproduktion etwa 20 Prozent des CO2-Ausstoßes aus. Andererseits kann den Chinesen den Fleischgenuss niemand verwehren. Mit welcher Begründung sollten die Amerikaner mehr Fleisch essen dürfen als die Chinesen? Als Chinese könnte man da ja argumentieren: Sollen doch die Amerikaner jetzt mal 20 Jahre aussetzen, damit wir die Chance haben, nachzuholen. Indien ist mit 40 Prozent traditionell Spitzenreiter beim Anteil der Vegetarier in der Bevölkerung. Aber das ist ein traditioneller, gering industrialisierter Markt. In vielen Weltregionen nimmt die Bewegung inzwischen Fahrt auf, doch ohne China wird eine globale Trendwende nicht gelingen. Hier kommt alles zusammen: der unglaubliche Druck, etwas tun zu müssen angesichts des immens wachsenden Fleischkonsums. Ein Staat, der die Macht hat, die Dinge in die richtige Richtung zu lenken. Und ein riesiger Markt mit schon heute in absoluten Zahlen viermal so viel Vegetariern wie in den USA, obwohl deren Anteil an der Bevölkerung in beiden Ländern rund 4 Prozent beträgt.

Doch auch Peking kann den Konsum von fleischlosem Fleisch nicht einfach befehlen. Das macht selbst in China die Bevölkerung nicht mit. Die beste Lösung: Es muss erstrebenswert werden, kein Fleisch zu essen, es muss Teil eines coolen Lifestyles werden – zumindest für die städtischen Millennials.