„Anständig kochen“

Ein Interview mit der Spitzenköchin Jaqueline Amirfallah

Zu den Unterstützerinnen der Fair-Bio eG gehört die bekannte Göttinger Spitzenköchin und Gastronomin Jaqueline Amirfallah. Seit 2011 betreibt sie mit ihrem Mann Wolfgang das Bistro Apex, seit 2002  kocht sie regelmäßig in der Fernsehsendung ARD Buffet. Wir sprachen mit ihr über saisonales Kochen, regionale Lebensmittel und ihre Vorstellungen von einer zukunftsweisenden Gastronomie.

Frau Amirfallah, Sie kochen nicht nur fürs Fernsehen, sondern produzieren seit April für den YouTube Kanal der Fair-Bio eG in der Bio-Kantine Elkershausen kleine Koch-Videos, in denen Sie BioProdukte aus der Region verarbeiten. Warum engagieren Sie sich hier?
Jaqueline Amirfallah: Ich glaube, dass wir einen anderen Weg finden müssen, uns zu ernähren. Wir sollten wissen, woher unser Essen kommt. Wir müssen weg von Monokulturen, Massentierhaltung und dem Preisdiktat der Lebensmittelkonzerne. Wir brauchen Transparenz und eine überwiegend regionale Versorgung. Wir müssen die Verbraucher über die Herkunft ihres Essens aufklären und sie dafür  interessieren. Wir – das sind nicht nur Landwirte und Händlerinnen, das sind auch wir Köchinnen und Köche. Deshalb engagiere ich mich für die Fair-Bio Genossenschaft.

Was läuft denn schief mit unserem Essen?
Jaqueline Amirfallah: Eine Menge! Wir müssen wieder lernen, dass gute Lebensmittel einen bestimmten Preis haben. Am Beispiel Fleisch sieht man es am deutlichsten. Hinter einem Kilo Fleisch steht ein  Tier, das aufgezogen werden muss, fressen muss, geschlachtet werden muss. Was ist geschehen, wenn dieses Fleisch am Ende für drei oder vier Euro verkauft wird?? Ich glaube, dass wir unsere Unschuld verloren haben, als wir angefangen haben, die Aufzucht von Tieren zu einer Industrie zu machen.

Aber Menschen, die mit Lebensmitteln handeln, müssen damit auch Geld verdienen, oder nicht?
Jaqueline Amirfallah: Natürlich. Landwirte, Hersteller, Köche ̶ wir alle leben ja davon, dass wir Lebensmittel produzieren, mit Lebensmitteln handeln und Lebensmittel verarbeiten. Gewinnmargen müssen sein. Aber sie sollten sich entlang der Wertschöpfungskette gerecht verteilen und dürfen sich nicht an nur einer Stelle anhäufen. Doch wer verdient denn viel Geld mit Lebensmitteln? Nicht die Landwirte, die unter immer größeren Druck geraten. Nicht die schlecht bezahlten Erntehelfer oder Arbeitskräfte in den Schlachthöfen. Es verdienen nur ganz wenige Konzerne das Geld. Und die wiederum üben immer  mehr Preisdruck aus, daraufhin wird weiter zentralisiert, industrialisiert und globalisiert. Eine Spirale, die wir durchbrechen müssen.

Alles im Überfluss, doch vieles zu billig, zu schlecht, zu hoch verarbeitet. Warum ist es um unsere Ernährung und unsere Lebensmittel so schlecht bestellt?
Jaqueline Amirfallah: Nach dem Zweiten Weltkrieg hatten die Menschen Lust, es sich richtig gut gehen zu lassen. Sie hatten viel nachzuholen und wollten viel und billig. Und unser Wirtschaftssystem,  später befeuert durch die Globalisierung, machte das in ziemlich kurzer Zeit möglich. Meine Kochanfänge fielen mehr oder weniger mit dem Beginn der Globalisierung zusammen: Anfang bis Mitte der 90er. Damals habe ich in einem der besten Restaurants Deutschlands gearbeitet: im „Schiffchen“ bei Jean-Claude Bourgueil in Düsseldorf. Wir hatten oft über 20.000 Flugkilometer auf dem Teller! Wir hatten ein  Dessert, das hieß „unser Schiffchen in den Tropen“ – eine Auswahl der tollsten tropischen Früchte, egal zu welcher Jahreszeit. Flugananas, Mango, die wirklich schmeckt – das war für uns neu und spannend. Inzwischen ist das zur Normalität geworden: Alles muss in großen Mengen immer und überall und billig verfügbar sein. Jeder noch so kleine Supermarkt ist vollgestopft mit Dingen, die um die halbe Welt  gereist sind. Wir kaufen zu jeder Jahreszeit, worauf wir Lust haben. Es ist ja immer alles im Angebot. Lebensmittel sind so billig wie noch nie. Doch auf dem Weg bis hierher ist etwas gründlich schief  gegangen! Wir wollten es uns gutgehen lassen. Aber wir lassen es uns gar nicht mehr gut gehen, ganz im Gegenteil: Wir essen Fertiggerichte und mit Antibiotika vollgepumpte Tiere, die ein schreckliches Leben hatten. Wir kapieren gar nicht mehr: Was ist gut? Was schmeckt? Es gibt jede Menge Untersuchungen dazu, dass die Leute beispielsweise Instant-Hühnersuppe lieber mögen als die echte, weil sie den wahren Geschmack gar nicht mehr kennen und künstlich von echt nicht mehr unterscheiden können. Unsere Geschmacksnerven sind mittlerweile ganz lädiert durch diesen Overkill aus der  Lebensmittelindustrie.

Und was soll und kann sich ändern?
Jaqueline Amirfallah: Ich glaube, genau jetzt ist die Zeit, wo die Menschen zur Wertschätzung ihrer Lebens-Mittel, ihrer Mittel zum Leben, zurückfinden. Die Pandemie hat sichtbar gemacht, wie störanfällig  unsere globalen Lieferketten sind. Der Klimawandel macht die weltweiten ökologischen Schäden spürbar. Immer mehr Menschen erkennen, in was für einer Endlosspirale wir uns befinden. Bei  Lebensmitteln, beim Klima, beim Umweltschutz, bei der Planung der Ressourcen. Gemüse selbst anbauen ist grad groß im Trend. Wer etwas selbst gezogen und gehegt und gepflegt hat, nutzt es wirklich bis  zum letzten Rest, weil man es wertschätzt. Mit Billignahrung verschwindet die Freude am Essen. Diese Freude, wenn etwas toll schmeckt – die haben wir verloren, weil man alles überall kaufen kann. Wir sollten wieder Freude in unser Essen bringen! Und das geht nur mit dezentralen Strukturen, mit kleinen Läden, mit Essen, das in die Saison gehört.

Weiß man denn immer, welches Essen in die Saison passt?
Jaqueline Amirfallah: Bei Erdbeeren und Spargel wissen wir grade noch, wann es wächst, weil es uns nah ist. Aber bei so vielen Lebensmitteln weiß niemand mehr, woher die eigentlich kommen und wann die dort wachsen. Ich helfe seit einiger Zeit bei der Göttinger Tafel und finde es erschreckend, was für Lebensmittel aus den Supermärkten ankommen. Erdbeeren zu jeder Jahreszeit, aus Heidelbeeren ist  mittlerweile ein Ganzjahres-Obst geworden. Mich stört sehr, dass so viele Saison-Gemüse mit aller Gewalt zu Ganzjahres-Gemüse gemacht werden – Kürbis und Rote Beete sind Beispiele. Rote Beete  gehören in den Winter – im Frühling sind sie schrumpelig. Kürbis gehört in den Herbst. Aber nein, alles muss plötzlich dauerverfügbar sein. Ich habe vor sechs Jahren meinen ersten tomatenfreien Winter gemacht! Ich habe Tomaten verarbeitet, solange mein Gemüsebauer noch Freilandtomaten hatte, und dann gab es bis Mai keine Tomaten mehr. Das war im ersten Jahr wirklich hart. Mittlerweile habe ich  mich komplett dran gewöhnt und freue mich wie Bolle auf die ersten Tomaten des Jahres!

Sie und Ihr Mann haben 2011 das Göttinger Bistro-Restaurant Apex übernommen, damals betrieben Sie auch noch den Gauss-Keller*. 2017 haben Sie das Gourmetrestaurant geschlossen und kochen seitdem nur noch im Apex. Hat Ihre Entscheidung etwas mit Ihrem Wunsch nach regionalen und saisonalen Zutaten zu tun?
Jaqueline Amirfallah: Ja. Den Gauss-Keller haben wir 2017 nicht geschlossen, weil er nicht funktioniert hat. Im Gegenteil: er funktionierte hervorragend. Aber mein Blick aufs Kochen und das, was
ich machen möchte, hatte sich mittlerweile geändert. Im Apex kann ich die Art, wie ich gern kochen möchte, besser verwirklichen. Wir haben von Anfang an die Produzenten der Lebensmittel unter die  Gerichte geschrieben. Wir verwenden überall da, wo es funktioniert, Produkte von regionalen Erzeugern aus der Umgebung – am Standort Göttingen sind wir ja ziemlich gut versorgt. Beim Fleisch ist mein  Credo: wir verwenden nur Fleisch von Erzeugern, von denen wir wissen, wie sie produzieren. Sonst gibt es eben kein Fleisch. Punkt. Ich habe – seit Jahren schon – die Philosophie der ganzen Tiere. Wir  kaufen wo möglich nur ganze Tiere. Geflügel sowieso, Lämmer, Ziegen, Wild. Rinder als Viertel. Wir zerlegen sie selbst und verkaufen sie auch bis zum letzten Stück. Aus den Knochen wird Brühe gekocht.
Unsere Karte enthält auch viele vegetarische Gerichte. Wir kochen konsequent mit der Saison. Jetzt fängt es mit dem Spargel an, aber es ist auch noch Kohl als Lagerware da.

Gibt es ein typisches Apex-Gericht?
Jaqueline Amirfallah: Nein. Aber wenn man mich fragt, was die Küche des Apex so besonders macht, erzähle ich gern die Geschichte vom Senfei! (lacht) Als ich das auf die Karte setzen wollte, war mein  Mann entsetzt: Senfei?? Wer will denn sowas?! Aber: Die Kartoffeln kommen aus Moringen, ganz nah von hier. Die Milch kommt aus Diemarden, praktisch um die Ecke, die Eier kommen aus der Nähe von Hameln, der Senf aus Einbeck und die Kresse, die wir draufstreuen, kommt aus dem eigenen Garten oder aus dem Garten eines Freundes. Und schon haben wir ein wunderbares Gericht aus der Region,  das wirklich eine Seele hat! Das macht das Kochen im Apex für mich aus, dass ich hier all diese Möglichkeiten und Freiheiten habe. Und eine Kundschaft, die das Konzept zu würdigen weiß und genießt. Essen in einem Lokal muss die Menschen ernähren, die dort beschäftigt sind, deshalb darf es in einem „einfachen“ Lokal nicht zu billig sein. In den letzten Jahren, auch befeuert durch den Fachkräftemangel, sind immer mehr Kollegen dazu übergegangen, Fertigprodukte zu verarbeiten. Dass der Beruf zwischenzeitlich so darniederlag, liegt auch daran, dass der Konsument nicht bereit dazu ist, den fairen, den richtigen Preis zu zahlen.

Sollen also Köchinnen und Köche zeigen, wie’s saisonal und regional geht?
Jaqueline Amirfallah: Warum nicht? Spitzengastronomie kann eine Vorreiterrolle haben. Wir Köche müssen den Menschen zeigen, wie man gesund, ökologisch und nachhaltig kocht. Und dass diese Art zu kochen am besten schmeckt. So könnten wir dazu beitragen, dass ein „anständiges Kochen“ von unseren Restaurants in die Alltags- und Hobbyküchen zurück schwappt.

Was bedeutet für Sie „anständiges Kochen“?
Jaqueline Amirfallah: Eine Küche, die nachhaltig und zukunftsweisend ist. Frisch, saisonal, regional, vielfältig, mit ökologisch produzierten und wenig verarbeiteten Lebensmitteln. Unsere Gäste – im heimischen Umfeld unsere Familien und unsere Kinder – sollen wieder lernen, wie eine Möhre wirklich schmeckt. Und eine ökologisch angebaute Möhre aus der Region, oder gar aus dem eigenen Garten,  schmeckt nun mal besser als jede andere Möhre dieser Welt.

*Traditionsreiches Göttinger Spitzenrestaurant, bis zur Schließung 2017 eines der ersten Gourmetrestaurants
der Universitätsstadt

Göttingen, 11. Mai 2021
Das Interview führte Heike Hoppe, Redakteurin, Geschäftsführerin Fair-Bio eG

Pressekontakt:
Heike Hoppe | Fair-Bio eG | Levinstraße 9 | 37079 Göttingen | 0551-506619582 | h.hoppe@fairbio-genossenschaft.de; zum YouTube-Kanal der Fair-Bio eG: https://bit.ly/3ubuqkW

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